Reinhold H. Möller

LÄNDLICHER RAUM IM WANDEL

 

Strukturwandel ist notwendig. Er setzt Einsicht und Reformbereitschaft voraus. Und er ist schmerzlich. "Das vertraute Elend ist den Menschen oft lieber als das unbekannte Glück" hat ein bekannter Zeitgenosse einmal gesagt. Der Wandel eröffnet nämlich auch neue Chancen.

Der ländliche Raum hatte seit Ende der Agrargesellschaft Standortfaktoren, Funktionen und schließlich auch Werte verloren. Seine Bedeutung reduzierte sich vielfach auf die Schlaffunktion derer, die täglich in die Ballungsräume auspendelten, um dort ihr Brot zu verdienen. Die prägende Kraft der Landwirtschaft verlor ihre Wirkung. Die Zahl der Betriebe reduzierte sich in nicht einmal 50 Jahren um mehr als 80%. Gleichwohl vollzog sich der Wandel zur Industriegesellschaft in Zeiträumen, die die Menschen nachvollziehen konnten. Er wurde als Fortschritt empfunden. Weniger das öffentliche Verkehrsmittel, die Eisenbahn, als vielmehr das Automobil, Synonym wenn nicht gar Symbol für die industrielle Epoche, ermöglichte den Menschen die tägliche Rückkehr zur ländlichen Idylle.

Das sog. flache Land war eher als die Stadt der Inbegriff von Arbeit gewesen. Sie hatte keineswegs nur eine wertschöpfende, sondern auch eine gemeinschaftsbildende Funktion. Es war die erste und damit entscheidende Funktion, die dem Dorf verlorenging. Industrialisierung führte zur Zentralisierung. Die Menschen strömten dort zusammen, wo es Arbeit gab. Mit dem Übergang zur Dienstleistungsepoche kam der Computer und verstärkte die sog. Konzentration der Kräfte, die alleine Leistungsfähigkeit zu versprechen schien. Es kam die Schulreform, die den Kindern die Möglichkeit nahm, ihre ersten Lernerfahrungen am Beispiel ihres Heimatortes wahrzunehmen. Dann wurde die Gebietsreform durchgeführt. Computer waren teuer und rar. Dort, wo sie sich befanden, dort waren die Informationen, die Verwaltung erst ermöglichten. Eingemeindungen und Verwaltungsgemeinschaften waren die Zauberworte einer höheren Leistungsfähigkeit. Geschäfte, Gaststätten und Tankstellen schlossen. Wenn dann der alte Pfarrer ging, wurde auch das Pfarrhaus frei. Der Fernseher, wie das Auto und das Telefon ein Zeichen dafür, daß auch auf dem Lande der Fortschritt eingekehrt war, trug auch nicht gerade zur Aufrechterhaltung der Traditionsgemeinschaft "Dorf" bei. Diese neuen Errungenschaften, die lange Zeit auch Statussymbolcharakter hatten, ließen aber diesen Wandel in hellem Licht erscheinen. In den 80er Jahren des gerade zu Ende gegangenen Jahrhunderts war er abgeschlossen.

Mit Beginn der 90er Jahre, äußerlich mit der Einführung von ISDN, setzte - so auch nach dem prognostischen "Kondratieff-Zyklus" - die nächste technische Revolution, die der Informations- und Kommunikationstechnologie (IKT), ein.

Nicht nur Sprache (Telefon), sondern auch Daten, Bilder und Texte wurden über die gleiche (Telefon-)Leitung zwischen beliebigen Partnern übertrag- und austauschbar. Anders als bei der Industrialisierung ließ diese Entwicklung den Menschen nicht viel Zeit zur mentalen Anpassung. Explosionsartig entstanden neue Produkte. Halbleiter- und Chipherstellung ermöglichten Massenware. Die Leistungsfähigkeit der Rechner wurde vervielfacht, und der Computerpreis fiel in wenigen Jahren auf einen Bruchteil seines ursprünglichen Wertes. "Information" wurde erstmals als Wirtschafts- = Produktionsfaktor neben Arbeit, Boden und Kapital entdeckt. Und auch als Standortfaktor machte er innerhalb von wenigen Jahren einen Sprung vom 10. Auf den 2. Rang. Informationen aller Art können seitdem zeitgleich an nahezu jedem Ort der Welt verfügbar gemacht werden. Es neues geflügeltes Wort könnte entstehen: "Information ist alles, alles ist Information." In der Tat kann mit IKT die Welt nachhaltig verändert werden. Mit dem Internet kam Mitte der 90er Jahre der nächste gewaltige Schritt. Zur Zeit gehen breitbandige Leitungsnetze "in Serie", die Zugänge für die Weltplattform Internet in 12 bis 30mal ISDN-Geschwindigkeit ermöglichen. Und dies könnte nicht nur für die Ballungsräume gelten. Im Gegensatz zur Autobahn könnte jedes Dorf eine Auffahrt zum Hochgeschwindigkeitsnetz erhalten - ohne daß es unkorrigierbarer Eingriffe in die Landschaft bedarf. Dann kann der "Faktor Arbeit" in den ländlichen Raum zurückkehren, zu dem er einmal essentiell gehörte. Unternehmen, vor allem Dienstleistungsunternehmen, die Güter weder herstellen noch verteilen und dennoch hochprofitable Leistungen erbringen, können sich dort ansiedeln. Vor allem aber werden die Bewohner dieser Orte, die bisher in die Ballungsräume pendelten, um dort in sterilen Büros Dienst zu tun, in ihrem Heimatort arbeiten können. Immense Kosten des Pendleraufwands würden eingespart: Kfz-, Grundstücks- und Gebäudekosten, Versicherungsrisiken, Straßenbaukosten, Zeitaufwand, Umweltbelastung; die Gewerbesteuer könnte im Zerlegungsanteil den Wohnorten = Arbeitsstätten zugeordnet werden, wo der Hebesatz i.d.R. ohnehin deutlich geringer ist. Aus diesen Einsparungen kann locker die notwendige Infrastuktur finanziert werden. Dazu kommt, daß auch die Kaufkraft stärker an den eigenen Ort gebunden würde. Die Wirtschaftskraft des ländlichen Raumes würde nachhaltig steigen, weil sie gerechter verteilt würde.

Für Unternehmensgünder - von einigen Handwerksberufen mit begrenzter örtlicher oder bestenfalls regionaler Kundenorientierung abgesehen - konnte es im Heimatort keine Möglichkeiten der Unterstützung in der Anlaufphase geben. In den größeren Städten waren Gründerzentren entstanden. Fanden sie dort Aufnahme, waren sie und ihr Pioniergeist normalerweise für ihre Heimatorte verloren. Heute gibt es die ersten Gründer-Service-Agenturen mit dezentralen Strukturen: Junge Firmen werden dank IKT bis in ihre Wohnhäuser hinein mit den gleichen Leistungen unterstützt wie in den Gründerzentren.

Damit verbindet sich eine weitere Entwicklungschance für den ländlichen Raum. Die Gebietsreform in Bayern in den 70er Jahren kam nur gegen große Widerstände zustande. Der letzte Bundesminister für Post und Telekommunikation, Dr. Wolfgang Bötsch, war seinerzeit Mitglied des Bayerischen Landtags und auch der für die Gebietsrefom zuständigen sog. Merck-Kommission. Er räumte vor wenigen Jahren ein, daß die Reform vor dem Hintergrund der heutigen IKT ein anderes Gesicht hätte. Eine dezentrale Organisation von Verwaltungen würde Funktionen in den Orten belassen, und die Bürger würden vom Bürgerbüro im ehemaligen Rathaus ihres Heimatortes oder von einem sog. Bürgerladen aus ihre Verwaltungsangelegenheiten mit Hilfe einer ihnen vertrauten Person erledigen. Auch dies würde Kaufkraft binden und nachhaltig zur Stärkung des ländlichen Raumes beitragen.

Die technischen Voraussetzungen sind gegeben; dennoch werden weitere Verbesserungen kommen. Über Telearbeit gibt es immer wieder Berichte von Untersuchungen mit nahezu entgegengesetzten Resultaten. Mal wird von ständig zunehmender, mal von geringer Akzeptanz gesprochen. Fraglos gibt es Vor- und Nachteile wie überall. Unverkennbar scheint auch das Interesse der öffentlichen Hand an einer Änderung der bestehenden Ordnungen nicht sonderlich interessiert zu sein. Das Landesentwicklungsprogramm (LEP) würde in Frage gestellt werden. "Zentrale Ort" würden in den zentralen Funktionen zugunsten der kleineren Orte geschwächt. Auch öffentliche Strukturen und Hierarchien müßten auf den Prüfstand. Damit kämen auch liebgewordene Pfründe in Gefahr. Erst wenn die Rahmenbedingungen, z.B. auch in der Änderung der Kriterien für die Anerkennung von Betriebsstätten im eigenen Haus oder in der Berücksichtigung geringerer (Verkehrs-)risiken in den Versicherungsbeiträgen oder etwa die Befürchtung geringerer Absatzraten der Automobilindustrie bei Wegfall der Pendler oder - wie bereits angedeutet - die stärkere Berücksichtigung dezentraler Strukturen im LEP, erst wenn solche Rahmenbedingungen sich an die Möglichkeiten der neuen Technologien anpassen, werden die Vorteile einer sich dann verstärkenden dezentralen Entwicklung auch für die gesamte Gesellschaft spürbar.

Allerdings spielt dabei der Zeitfaktor eine entscheidende Rolle. Die Deutsche Telekom - damals noch 100%iger Staatsbetrieb - hat in den 80er Jahren Breitbandnetze im großen Stil verlegt - jedoch nur in den Verdichtungsräumen. Der ländliche Raum war nicht profitabel genug. Parabolantennen auf den Dächern der Dörfer glichen den vermeintlichen Nachteil hinreichend aus. Aus Wettbewerbsgründen aufgrund einer EU-Anordnung muß nun die Telekom ihre Netze verkaufen. Darüber ist ein heißer Konkurrenzkampf verschiedener, vor allem ausländischer Unternehmen, entbrannt. Dabei geht es nicht so sehr um Rundfunk und Fernsehen, sondern um hochleistungsfähige Kommunikationssysteme, zu denen die Netze - da wo sie sind - aufgerüstet werden können. Superschnelle Zugänge zu der globalen Plattform Internet werden möglich.

Unterdessen ist die Telekom mit der breitbandigen Nische (T)DSL (Digital Subscribe Line) auf den Markt gekommen und glaubt, die Aufrüstung der Breitbandnetze durch die Konkurrenz, zumindest im Massenbetrieb mit deutlich geringerer Leistung, unterlaufen zu können. Doch die Umrüstung der ISDN-Netze geht auch wieder in der Reihenfolge "erst die Ballungsräume, dann das flache Land". Damit wird das Fell des Bären schon wieder verteilt. Selbst wenn die Landstädtchen mit der Umstellung dran sein werden, sind die Strukturen praktisch unrevidierbar geschaffen.

Es hilft also nichts zu warten, bis die Schwerfälligkeit öffentlicher Umorientierung das flache Land erreicht. Die Kommunen des ländlichen Raumes müssen ihr Geschick selbst in die Hand nehmen. Sie dürfen sich nicht mit dem schleichenden Gift willfähriger Ergebenheit in das gewohnte Schicksal einer umgekehrten Subsidiarität abfinden. Vor allem müssen sie sich über das vorhandene Potential und die daraus resultierenden Möglichkeiten klar werden. Dabei spielt die absehbare Entwicklung eine Rolle, daß Unternehmen der Gütererzeugung und -verteilung sich verstärkt an günstigen Verkehrsstandorten (möglichst BAB-Kreuz plus Bundesbahn plus Wasserstraße plus Flugplatz) positionieren werden, die für den Betrieb erforderliche Dienstleistungsaufgaben aber an ganz anderen Standorten sich befinden können. Die Entwicklung der letzten Jahre hat gezeigt, daß die Mitarbeiter im unmittelbaren Güterherstellungs- und -verteilungsbereich immer weniger und die in der administrativen Bearbeitung, d.h. am Computer, immer mehr werden. In der Zukunft werden nicht nur weitere Mitarbeiter aus dem sog. sekundären Bereich ausscheiden, sondern deren Arbeit wird in den tertiären Bereich verlagert.

Die Orte fern optimierter Verkehrssysteme müssen sich auf die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen vorbereiten. Da heute schon etwa 70% der Arbeit ganz oder teilweise mit dem Computer erledigt wird, werden dafür auch keine Gewerbegebiete herkömmlicher Art benötigt. Arbeiten und Wohnen werden in den gleichen Lebensräumen stattfinden können. Dabei wird sich herausstellen, ob dann die Menschen wirklich ihren Arbeitsplatz in den eigenen Vierwänden oder lieber in fußläufiger Entfernung in einem Gemeinschaftsbürohaus, das ohnehin der gleichen infrastrukturellen Grundausstattung bedarf, haben wollen.

Heute ist noch eine optimierte Verkehrsanbindung der Standortfaktor Nr. 1. Wo aber noch vor wenigen Jahren Facharbeiterpotential und große Gewerbegebiete als nächste sog. harte Faktoren folgten, sind längst Informations- und Kommunikationsinfrastruktur sowie Weiterbildungsmöglichkeiten und Wissensmanagement getreten. Noch bedeutender erscheint die Reihenfolge der weichen Standortfaktoren. Bildung/Ausbildung war einmal weicher und ist jetzt (s.o.) harter Faktor. Hochwertige Wohnlagen im Stadtgebiet, kulturelle Angebote, Sporteinrichtungen, Einkaufsmöglichkeiten von Luxusgütern spielen zwar immer noch eine wichtige Rolle, werden aber Ansprüchen an gesunde Lebensbedingungen, ökologisches Umfeld sowie Angeboten in Freizeit und Erholung untergeordnet.

In dem bekannten Buch von Leo A. Nefiodow "Der sechste Kondratieff" werden "die langen Wellen der Konjunktur und ihre Basisinnovationen" geschildert. Danach ist ablesbar, daß die Zyklen der wirtschaftlichen Entwicklung seit 1800 die Zentralisierung in Richtung der Ballungsräume zu Lasten des ländlichen Raumes gefördert haben. Mit der Informationstechnik begann um 1990 der "fünfte Kondratieff", und nach der immer wiederkehrenden Talsohle wird mit der nächsten Welle, der "sechste Kondratieff", ab dem Jahr X nach 2000 gerechnet. Die Entwicklung der Biotechnologie, die Probleme mit BSE und MKS usw. lassen den Schluß zu, daß dann die Gesundheit Träger einer wirtschaftlichen Hochkonjunktur sein wird. Auch in diesem Bereich gibt es eine Basiszuständigkeit und historische Kompetenzen ("Nährstand") des ländlichen Raumes.

Mehr als je zuvor kommt es darauf an, die richtigen Weichenstellungen in den Kommunen heute vorzunehmen und nicht erst wenn die Positionen festgezurrt sind.


 

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